Warum das Medizinstudium wie eine toxische Beziehung ist
- Shehla-Ufaq Ahmad
- 19. März 2022
- 7 Min. Lesezeit

Meistens ist es so, dass man bereits während oder im Idealfall sogar vor dem Abitur weiß, dass man Medizin studieren möchte. Vielleicht sogar früher noch. Letzteres war bei mir der Fall. Man arbeitet dann vor sich hin, versucht den Schnitt zu erreichen, gibt hier und da noch den TMS ab, leistet einen Dienst, führt ein FSJ ein oder sonst was, um seine Chancen auf ein Studiumplatz zu erhöhen. Dass Medizinstudienplätze nicht nur heißbegehrt, sondern auch noch eine Mangelware sind, ist allseits bekannt. Was man jedoch nicht wirklich weiß, ist, wie toxisch und hart das Studium ist. Klar, man hört von den Ärzten oder auch Studierenden, dass das Studium nichts für schwache Nerven und nicht ohne sei. Aber in welchem Ausmaß das ganze in der Realität aussieht, erfährt man erst, wenn man selbst mittendrin steckt. Verständlich irgendwie, denn wer redet gerne über die negativen Aspekte? Und wenn man es doch tut, denkt man sich, "so schlimm kann's gar nicht sein". Um euch selbst ein Bild machen zu können, möchte ich meine Erfahrungen, die ich in den zehn Semestern machen durfte, mit euch teilen.
Kurz zum Studiumaufbau - wenn man vom klassischen spricht: die ersten zwei Jahre sind die Vorklinik mit überwiegend naturwissenschaftlichen Fächern und Anatomie und schließen mit dem ersten Staatsexamen, dem Physikum, ab. Dann kommen die klinischen Jahre, in denen alle Fächer von Chirurgie, Innere, Pädiatrie, Gynäkologie und so weiter behandelt werden, die vom dritten bis einschließlich dem fünften Jahr des Studiums umfassen und mit dem zweiten Staatsexamen ihr Ende finden. Und zuletzt der letzte Abschnitt, das letzte Jahr, das das praktische Jahr kennzeichnet und mit dem dritten Staatsexamen Abschluss hat. Danach ist man Arzt.
Warum also ist das Studium toxisch? Ganz einfach gesagt, weil man viel mehr gibt und opfert, als man zurückbekommt. Was heißt es konkret? Nun, das Studium umfasst neben den Vorlesungen, die keine Anwesenheitspflicht aufweisen, Pflichtveranstaltungen, die Seminare, Praktika und Kurse einschließen. In der Regel darf man im ganzen Semester genau eine Fehlstunde haben. Manche Fächer erlauben sogar eine unentschuldigte Fehlstunde, andere nur entschuldigte. Was das heißt, könnt ihr euch ja vorstellen: man muss sich genau überlegen, ob man das Risiko eingeht und nicht erscheint und hofft, dass man in den restlichen Anwesenheitspflichtstunden da ist. Oder geht tatsächlich mit Fieber, Kopfschmerzen etc. dahin, damit man im Ernstfall fehlen darf. Ansonsten hat man die Chance der Prüfung vermasselt und da manche Fächer Voraussetzung für die Teilnahme eines anderen Faches sind, spielt man über mehrere Semester hinweg mit der Zeit. Also erscheint es sinnvoller, mit Schmerzmitteln vollgepumpt zu erscheinen, als dass man Semester dranhängen muss oder ein Fach ins nächste schleppt, weil man eh schon 12 Fächer hat. Ein zusätzliches dreizehntes würde nicht nur den Rahmen sprengen, sondern auch belastend wirken. Dass man dann wenig bis gar nichts vom Unterricht mitbekommt, ist nicht von Belang. Hauptsache die Unterschrift ist da. Und das alles war für mich immer ein Problem. Besonders im Wintersemester. Leider bin ich anfällig für Erkältungen und Fieber und bin dementsprechend auch öfter krank. Teilweise hatte ich sehr starkes Fieber und bin dennoch zur Pflichtveranstaltung erschienen, damit ich ja keine Fehlstunde habe bzw. nur die eine, um an die Prüfung teilnehmen zu können. Das ist nicht nur ätzend, sondern auch quälend. Sehr sogar. Da stellt man sich und seine Gesundheit hinten an und priorisiert das Studium, so wie immer eigentlich.
Priorisierung - ja, das Studium muss immer an erster Stelle kommen. Vor allem, wenn man in der Regelstudienzeit fertig sein möchte, was bei den meisten der Fall ist. (Neben BAföG spielen noch andere Faktoren mit, warum das sein muss.) Stellt euch mal vor, es ist ein heißer Sommertag und alle wollen sich treffen, um das Wetter zu genießen. Doch ihr könnt nicht mit, wieder einmal. Weil ihr neben den Abschlussklausuren am Ende des Semesters Testate etc. während des Semesters habt und diese ebenfalls bestehen werden müssen. Oft kommt es dann vor, dass ihr auf Unverständnis trifft. Aber wenn man nur drei Versuche hat, will man kein Risiko eingehen. Vor allem dann nicht, wenn man einmal einknickt und nachgibt, nicht lernt, und dann auf die Nase fällt und vom Traum in die Realität ankommt. Dann lernt man, dass man wirklich das Studium und alles ernst nehmen sollte. Weil man dann nur noch zwei Versuche vom 'endgültig nicht bestanden' entfernt ist. Das will man nicht, wirklich nicht. Vor allem nicht, nachdem man so schwierig ins Studium reingekommen ist. Aber nicht nur das soziale Umfeld leidet, auch deine persönliche Freizeit. Vorlesungen sind zwar nicht Pflicht, aber in der Regel wertvoll. Ich habe tatsächlich viel mitnehmen können, vor allem, weil das mündlich gesagte eher im Kopf bleibt und manchmal auch das Gesagte in der Prüfung vorkommt. Wenn man nun Vorlesungen besucht und an den Pflichtveranstaltungen teilnimmt, sitzt man teilweise von acht bis achtzehn in der Uni. Bis man daheim ist, sind es neunzehn Uhr und dann wird noch zu Abend gegessen. Je nach dem, wie anstrengend der Tag war, möchte man sich hinlegen und ausruhen. Aber das geht oft nicht, weil immer etwas vor- oder nachzubereiten hat, wenn man nicht im Stoff hinterherhinken will. Und das alles geht solange, bis man die Pflichtveranstaltungen abgesessen hat. Und meistens ist es vor den Prüfungen. Deswegen habe ich meine meistens immer zu Beginn des Semesters gelegt, damit ich am Ende etwas mehr Zeit für die Klausurvorbereitung habe. Auf Dauer kann ich sagen, dass es nicht schön ist, wenn man den ganzen Tag in der Uni ist und Abends wieder mit der Uni beschäftigt ist und sich nicht einmal ausruhen kann. Und wenn man keine Doktorarbeit macht oder arbeiten muss, hat man freie Wochenenden und kann den Lernstoff auch auf sie verteilen. Aber meistens hat man ja noch Freunde und Familie, denen man alles gerecht machen möchte und auch ihnen Zeit schenken mag. Also steckt man seine eigenen Interessen ein. Zu Beginn des Semesters kann man das ein oder andere Wochenende auch zum Ausruhen nutzen oder zum Besuch der Eltern, wenn man in einer anderen Stadt studiert, aber sobald die Testate und vor allem die Klausuren näherrücken und man teilweise für 12 verschiedene Fächer lernen muss, hört der Spaß auf. Dann kommt wieder das Studium an erster Stelle. Man verzichtet auf Familientreffen, geht weniger raus und muss seine Zeit sehr gut einteilen. Der Stoff ist unfassbar viel und man weiß ja nicht, welche Themen vorkommen. Bis das alles halbwegs sitzt, nimmt es viel Zeit in Anspruch. Und dann kommen die hässlichen Zeiten: Druck, Angst und Zweifel. Weil während der Woche die Zeit hauptsächlich auf die Uni geht, nutzt man die Wochenenden zum Lernen und erstellt Pläne. Die man nicht immer einhalten kann, wenn man krank geworden ist zum Beispiel. Oder sich eine Pause gönnen möchte. Dann kommen die ersten Nächte hinzu, um alles in der Zeit hinzubekommen, der Druck steigt, die Angst, dass man durchfällt, wird greifbarer und die Zweifel, dass man nicht für das Studium gemacht ist, realer. Dann fallen die ersten Tränen, die ersten Gedanken des Aufgebens, der innere Druck, das Zurückziehen von der Umwelt, das Pauken, Pauken, Pauken. Und auch wenn man eigentlich kurz anhalten und seinen Gefühlen freien Lauf geben mag, geht es nicht, weil es ja wiederum Zeit braucht. Zeit, die man nicht hat. Also gibt man sich und die Umgebung auf. Weil man keine Zeit hat, sich in Mitleid zu suhlen oder sich eine Pause zu nehmen. Natürlich ist das ungesund! Und sollte mindestens einen Ausgleich, eine Balance haben, wie Sport zum Beispiel. Aber meistens ist die Zeit knapp. Kochen, putzen, duschen, schlafen - all das existiert ja auch noch und man muss teilweise überlegen, welcher Tätigkeit man nachkommen kann und soll und welcher nicht, während man nebenbei noch Uni hat. Und die Liste ist ellenlang. Natürlich übt sich das alles auf die Psyche aus. Man ist überlastet, gereizt, unzufrieden und unglücklich. Aber der Kreis dreht und dreht und dreht sich, bleibt nie stehen. Die Welt hält nicht an, die Zeit geht nicht zurück. Und niemand passt auf, wie es dir geht. Rein gar niemand. Weder deine physische noch deine psychische Krankheit interessiert es dem Studium, es nimmt, was es möchte. Ob man daran zugrunde geht, ist nicht von Bedeutung. Man muss einfach funktionieren, mehr geben und mehr und mehr und mehr. Bis man selbst leer ist.
Aber nach den Prüfungen ist es auch nicht vorbei, weil man in den Ferien Famulaturen und andere Pflichtpraktika absolvieren muss. Das heißt, so richtig ausruhen und entspannen kann man sich nicht wirklich. Höchstens sind es zwei bis drei Wochen im Semester insgesamt, wenn alles gut läuft und man keine Nachprüfungen hat. Dafür muss man die Abende aber nicht mit Lernen verbringen, das ist das positive. Aber wegfahren? Fehlanzeige.
Nachprüfungen sind auch ein Thema für sich. Auch wenn man wirklich gelernt und viel Zeit für ein Fach investiert hat, kann es trotzdem vorkommen, dass man durchfällt. Das ist nicht gerade gut für das Selbstwertgefühl und den Zweifeln. Vor allem heißt es, dass man sie in den letzten Wochen der vorlesungsfreien Zeit nachholen muss. Also hat man noch weniger Zeit und kann sich gar nicht erholen. Die Zeit wird knapper, alles komprimierter und tougher. Denn manche Fächer werden entweder nur im Wintersemester oder im Sommersemester angeboten und um eins absolvieren zu dürfen, muss man das andere bestanden haben. Heißt, dass man, wenn man im Wintersemester nicht besteht, die Nachprüfung schreiben muss. Ansonsten kann man erst im folgenden Jahr wieder an der Prüfung teilnehmen und wenn es ein Fach ist, dass bestanden werden muss, damit man im Sommersemester an Teil zwei teilnehmen darf, geht das dann nicht. Und so bauen sich Fächer auf. Das alles wäre nicht so schlimm, wenn man nicht Zeit verlieren und Semester dranhängen müsste. Vor allem vor den Staatsexamen muss man alle Fächer bestanden haben. Ansonsten darf man nicht teilnehmen und erst im darauffolgenden Semester zum nächsten Staatsexamen. Kritisch und stressiger wird es dann jeweils im vierten und zehnten Semester. Da müssen die Fristen fürs Examen eingehalten werden, wodurch man sich keine Nachprüfungen erlauben darf, deren Termine später als die Fristen zur Anmeldung des Staatsexamens sind. Besonders bei diesen Prüfungen baut man sich den größten Druck auf, weil man einfach bestehen muss.
Man ist ständig unter Druck, alles zeitlich hinzubekommen, muss immer überlegen, ob es wert ist, sich so zu zerstören und aufzugeben. Das Studium nimmt keine Rücksicht auf dich, du musst halt alles um dich herum so anpassen, dass es klappt. Zeit, um Rückschläge oder sonst was zu verarbeiten, hat man nicht. Es fehlt. Die einzige Lösung ist das strikte Einhalten eines Plans, ein außerordentlich gutes Zeitmanagement und viel Durchhaltevermögen. Man weint, zweifelt, schreit nach Hilfe und ist müde, einfach nur müde und möchte einmal eine Pause anlegen. Aber das geht nicht, weil die Zeit fehlt. Es ist toxisch, weil das Studium das einzige ist, was du hast, dir alles wegnimmt, du nie genug bist und genug gibst, auch wenn du nur das Studium im Mittelpunkt gestellt hast. Du bist immer an allem Schuld, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Das Studium kontrolliert dich, lässt dich einsam sein und von ihm abhängig. Und wenn man keine supportive Eltern und Freunde hat, verschlimmert sich alles. Deswegen bin ich sehr froh um meine Familie und mein soziales Netzwerk. Man muss echt die Zähne zusammenbeißen und da durch. Aber das alles lohnt sich, wenn man am Ende einen Patienten gesund und mit einem Lächeln im Gesicht nach Hause schicken darf.
Wow das klingt wirklich heftig! In diesem Ausmaß habe ich es mir tatsächlich nicht vorgestellt. Du kannst so stolz auf dich sein, dass du das durchziehst! Ich habe großen Respekt.