Ein prägendes Ereignis
- Shehla-Ufaq Ahmad
- 7. Aug. 2022
- 4 Min. Lesezeit

Es ist eine harmlose Tür wie jede andere auch. Man öffnet sie und geht von einem Raum in den anderen. Eine schließt sich, die nächste öffnet sich. Doch diese Tür ist anders. Nicht nur, weil es sich um eine Tür zu einem Patientenzimmer in einem Krankenhaus handelt. Sondern auch, weil sie der Grund ist für eine Erfahrung, die ich gemacht habe. Eine Tür, deren Öffnung ein schicksalhaftes Ereignis in meinem Leben prägt. Eine harmlose Tür, die ein nicht so harmloses Geschehen versteckt. Doch was genau passierte da? Bist du bereit, sie mit mir gemeinsam zu öffnen? Es ist leider keine leichte Kost. Also bitte öffne sie nur, wenn du dich wohl fühlst und brich sofort ab, sobald es zu viel wird. Oder du dich nicht mehr wohlfühlst. Bitte beachte die Triggerwarnung am Ende des Texts!!! Pass auf dich auf!
Im Jahr 2016 habe ich nach meinem Abitur ein Krankenpflegepraktikum für 3 Monate absolviert. Im Medizinstudium muss man bis zum Physikum, dem ersten Staatsexamen, dieses Praktikum in den Ferien machen. Und weil es erlaubt war, dieses direkt nach dem Abitur zu machen, dachte ich mir, warum nicht. Das Studium wird anstrengend genug sein. Also habe ich meinen Sommer auf der Kardiologie verbracht, Menschen versorgt, Krankheiten gesehen, Freundschaften geschlossen, verloren, Leute kennengelernt und mich von ihnen verabschiedet. Der Tod ist nichts Neues für mich, doch das alles im Krankenhaus zu sehen und bei der sterbenden Person dabei zu sein, war eine neue Erfahrung. Ich habe so vieles gelernt, über mich, meine Grenzen und vor allem meine emotionale Kapazität. Natürlich hatte ich viele Schwierigkeiten, noch überhaupt einzufinden und meinen Weg einzuschlagen, weil ich - ob ihrs glaubt oder nicht - doch auch recht schüchtern war. Ich befand mich immerhin in einer sehr sensiblen Umgebung und musste mich anders behaupten. Und dann kam der Tag, der vieles veränderte. Der mich bis heute prägt. Und nicht mehr loslässt. Es war zu einem Zeitpunkt, wo meine Zeit sich langsam dem Ende näherte. Eines morgens komme ich in einem Patientenzimmer, um den regulären Alltag zu bewältigen - Blutdruck messen, Fieber, fragen, wie es dem Patienten geht etc.. Und dann sehe ich eine Person - aus datenschutzrechtlichen Gründen nenne ich keinen Namen und keine Beschreibung zu der Person und wähle bewusst das männliche Geschlecht -, die ich bereits zu Beginn meines Praktikums gesehen habe. Sofort erkenne ich den Patienten und erinnere mich an die Zeit zurück, als er noch im Krankenhaus war. Nachdem ich ihn abgecheckt habe, gehe ich zum nächsten Zimmer, gehe meiner Arbeit nach. Dann ist es Zeit für das Mittagessen, ich gehe wieder in den Raum rein und bringe diesem einen Patienten sein Essen. Sein Nachbar wird gerade für eine Untersuchung mitgenommen. Ich gehe wieder aus dem Zimmer raus und lasse die Tür offen. Dann gehe ich zu den weiteren Patienten und bringe ihnen ihr Essen. Anschließend setze ich mich mit den anderen Schwestern an unserem Tisch und atmen eine Runde. Und dann kommt der Anruf. Jemand ist aus dem Fenster gesprungen. Ein Patient aus dem unteren Stockwerk habe jemanden runterfallen sehen. Sofort stehe ich auf, ebenso meine Kollegin, und wir rennen zu diesem einen Zimmer. Die Tür war verschlossen, wir öffnen sie und niemand ist zu sehen. Der Nachbar ist immer noch in der Untersuchung und der eine Patient nicht in seinem Bett. Das Fenster dafür sperrangelweit offen. Wir laufen zum Fenster und schauen nach unten. Trotz der Höhe erkennen wir ihn von hier oben, sein Kopf ist aufgeplatzt und überall ist da Blut. Wir werden runtergebeten, um den Patienten zu identifizieren. Wenig später sitzen wir wieder in unserem Besprechungsraum beisammen, schwere, bedrückende und unerträgliche Stille, während in meinem Kopf nur ein einziges Wort in Dauerschleife huscht: warum. Warum, warum, warum? Und die einzige Person, die mir hätte darauf eine Antwort geben können, ist nicht mehr da. Warum begeht man Suizid? Warum endet man sein Leben? Warum? Ich kann es mir nicht erklären. Niemand kann es. Fakt ist, es ist passiert. Es folgt eine Zeit mit der KriPo, der Verwaltung und alles mögliche, Aussagen werden genommen, Beweise gesichert, Prozedere abgegangen. Und danach der Alltag so fortgesetzt, als sei nichts geschehen. Als hätten wir nicht gerade einen Selbstmord erlebt. Nein, nichts. Es geht weiter. Auch am nächsten Tag erscheint jeder zur Arbeit und erledigt seinen Kram. Und das Zimmer bleibt in Erinnerung, hinterlässt einen Beigeschmack. Denn niemand wusste, dass das Öffnen dieser Tür etwas in uns reißen würde. Es ist ein Tag, den ich nie vergessen werde. Und jedes Mal, wenn ich da vorbeilaufe, im Zimmer bin oder von der Höhe nach unten schaue - alles erinnert mich an diesem einen Tag und bis heute frage ich mich, wie man Selbstmord begehen warum. Warum man es macht. Wie verzweifelt man sein muss. Und nie weiß ich recht, was ich fühlen soll, weil meine Emotionen zwar gefasst sind, ich aber sie intensiv spüre. Alles ist so präsent. Und ich hoffe, sowas nie, nie, nie wieder miterleben zu müssen.
Wenn ihr Hilfe braucht, nehmt euch sie. Bitte! Aber verlasst diese Welt nicht. Sie braucht euch!
Triggerwarnung: Tod, Selbstmord, Verlust - erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit!
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