Wo der Weizen blüht von Nadine Bogner
- Shehla-Ufaq Ahmad
- 4. März 2022
- 6 Min. Lesezeit

Gerade habe ich die letzten Seiten gelesen und verstehe nicht, wo oben und wo unten ist. Meine Gedanken sind durcheinander, der Schmerz pocht gefährlich nah an der Oberfläche, und meine Gefühle spielen verrückt. Es tut so verdammt weh, das Buch zu beenden. Einfach, weil solch eine Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht und viele weitere Familien betrifft bzw. betraf. Ich versuche mich einer Rezension, die dem Buch gerecht wird.
Das Buch beginnt 2008 aus Alex’ Perspektive, die sich gerade auf der Beerdigung ihrer Großmutter Anna befindet. Als Alex eine geheime Holzkiste mit Annas Habseligkeiten findet, weiß sie sofort, dass Anna nicht jene ist, die sie kennengelernt hat. Ihre Großmutter war einst anders - doch wer genau war sie? Obendrauf erfährt sie, dass ihr Erbe, ein Textilunternehmen namens Claussen & Kronberg, dem Untergang geweiht ist. Alex wird das Gefühl nicht los, dass ihre Großmutter Anna absichtlich das Unternehmen ins Verderben gestürzt hat. Doch wieso? Dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist zu Alex‘ Aufgabe geworden.
Während Alex alles aus dem Jahr 2008 berichtet, werden die Geschehnisse rund um 1938-1944 aus Annas Sicht erzählt. In „Wo der Weizen blüht“ geht es nämlich primär um Anna, die mit ihrer Familie aus ihrem pompösen und luxuriösen Leben aus München gerissen wird und in ein kleines Dörfchen ziehen muss. Dort trifft sie auf die Bauernkinder Lisa und Johann, auf die sie nicht gut zu sprechen ist. Benson jedoch, der wie ein Bruder mit Anna aufwächst und der Sohn des verstorbenen Geschäftspartners ihres Vaters ist, kommt gut mit ihnen klar. So kommt es, dass vier ungleiche Kinder eine Freundschaft entwickeln. Doch leider holen die Umstände der damaligen Zeit alles ein. Kann es noch ein Happy End geben?
Nadine hat einen sehr schönen und vor allem flüssigen Schreibstil, der an den passenden Stellen tiefgründig, poetisch und gefühlvoll ist. Dieser ermöglichte mir, mich so sehr in die Geschichte fallen zu lassen, dass ich mich wie in einem Film fühlte, und alles hautnah miterleben konnte. Die Charaktere sind sehr authentisch und greifbar gezeichnet, sodass ich eine sehr gute Bindung zu ihnen aufbauen konnte. Jeder der Vieren - Anna, Benson, Johann und Lisa - ist so unterschiedlich mit seinen/ihren eigenen persönlichen Schwächen und Stärken fein ausgearbeitet worden. Nadines Liebe zum Detail ist sehr bemerkenswert. Denn diese lässt die Geschichte nur so von Leben strahlen.
Der Großteil der Geschichte befasst sich mit der Entwicklung der Beziehungen zwischen den vieren, wobei das Hauptaugenmerk auf Annas und Johanns Beziehung liegt. Anna ist zu Beginn sehr zickig und lässt sich nicht auf die neuen Umstände ein, macht aber im Laufe eine sehr starke Entwicklung durch. Ihre anfänglichen Prioritäten - Geld, Ruhm und Luxus - wandeln sich und verlagern sich zu Familie, Freundschaft und das, was im wahren Leben zählt: die Liebe. Johanns und Annas Liebe ist sehr ruhig, sanft und zwischen den Zeilen lesbar. Erst nach und nach kommt diese Liebe offensichtlich zum Vorschein. Von Feind zu Freunden zu Liebenden - das ist deren Geschichte, so wundervoll, so ehrlich, so wahr.
Wo mir zu Beginn die Entwicklung ein kleines Stück zu schnell voranging, passte sich das Tempo im weiteren Verlauf der Geschichte an und war sehr gut nachvollziehbar. Nadine schenkt uns eine Geschichte, die sehr idyllisch ist und einem Traum gleicht. In erster Reihe können wir mitverfolgen, wie die Freundschaft der vieren ihre ersten Wurzeln schlägt und zu Bäumen ausreift. Bäume, die zu ewigen Erinnerungen werden. Eine Freundschaft, die nicht mehr als Neid für den Leser übrig hat. Ich bin so sehr in die Vier vernarrt gewesen, dass die eingeschobenen Kapitel aus Alex‘ Sicht mich nur an eins denken ließen: wann kann ich wieder zu Anna in die Vergangenheit zurückreisen? Der Schreibstil, die Atmosphäre und die Geschichte - allesamt gaben mir Nicholas Sparks‘ Vibes! Die sich vor allem gegen Ende verstärkten. Während wir also auf Wolke sieben schweben und aus Freundschaften eine Liebe entsteht, den Charakteren näherkommen und das Leben in all seinen Facetten und Farben kennenlernen, zerplatzt die Blase der Geborgenheit, als die Realität über uns einbricht und uns hart auf den Boden aufkommen lässt. Denn bedenkt, dass Annas Geschichte zu einer Zeit abspielte, die nicht nur die Anfänge, sondern auch den Höhepunkt des zweiten Weltkriegs zeichnete. Während wir in den Anfangsjahren nur wenig vom Geschehen mitbekamen, wurden wir immer weiter und mehr in die Geschichte eingezogen. Ich selbst hatte Geschichte im Abi und habe mich mit dem Thema Weltkrieg befasst und muss an dieser Stelle ein großes Lob an die Autorin für die Recherche aussprechen. Denn tatsächlich war die Begeisterung des Krieges, dessen Darstellung und Vorstellung so gut beschrieben, wie sie wirklich zu jener Zeit herrschte. Bis heute verstehe ich nicht, wie sich Menschen für ein Krieg begeistern konnten. Aber leider war dem so.
Nachdem die Autorin uns also auf den Boden der Tatsachen zurückholt, erleben wir an unserem eigenen Laib, wie wir mit Anna und Johann um unser Leben rennen, als die Fliegerbomben ihren Weg über Deutschland finden. Solche nervenaufreibenden Szenen haben mich immer wieder die Luft anhalten lassen. Und sorgten dafür, dass ich nach solch einer Szene erst einmal das Buch zur Seite legen musste, um atmen zu können. Nicht zuletzt Nadines Schreibstil ist Schuld daran, dass ich Herzklopfen des Todes hatte. Da bin ich froh, dass uns Benson durch seine lockere und lustige Art Verschnaufpausen gegönnt hat. Oder Johann, der mit seiner ruhigen und sanften Art uns an die Hand nimmt und mit seiner Umarmung Trost spendet. Da erst wurde mir klar, dass wir langsam, aber sicher einer sehr ernsten und wichtigen Thematik herangeführt werden: der Krieg und seine Auswirkungen. In Nebensätzen erfährt man von der Lebensmittelknappheit, die dafür sorgte, dass Johanns und Lisas Familie wie andere Bauernfamilien von ihrem Ertrag abgeben mussten. Doch gänzlich werden wir erst durch eine andere Situation wachgerüttelt und mitten in den Krieg gezogen. AB HIER SPOILER!!! Denn Johann und Benson ziehen in den Krieg. Dass Benson sich freiwillig gemeldet hat, schön und gut. Aber dass er Johann mit hineinzieht - ich könnte ihn killen! Genau wie Anna habe ich so einen Hass und so eine Wut auf ihn gespürt, dass ich diese negativen Gefühle nicht in Worte fassen kann! Mit diesem Umstand zerbricht Nadine den romantischen Zirkel, den sie um uns gezeichnet hat. Aber damit ist nicht Schluss, nein, die Achterbahnfahrt beginnt erst! Eine Weile erfahren wir nur durch Johanns Briefen, wie es ihm geht. Und als es mal keine gab, ließ Nadine die Luft aus unseren Lungen weichen. Ich habe noch nie so sehr gezittert und gebannt auf ein Lebenszeichen gewartet, wie hier. Spoiler Ende!!! Also die Autorin weiß auf alle Fälle, wie man ihre LeserIn in den Wahnsinn treibt! Aber, es wird noch besser. Denn es passieren einige Dinge. Es werden Entscheidungen gefällt, die das Leben für immer verändern könnten. Und die Konsequenz einer Entscheidung resultiert in einer anderen. Eins und eins kommt zusammen und lässt uns nur noch mit weit aufgerissenen Augen auf die Wörter gucken und infrage stellen, ob wir uns denn nicht verlesen haben. Vor allem die letzten paar Kapiteln waren sehr intensiv. Und das Ende? Emotional!!! Es hat mir das Herz zerrissen! Die Autorin hat mit diesem Ende eine sehr große und klaffende Wunder auf meiner Brust geschaffen, ohne mir eine Lösung zu geben, wie wir diese schließen können. Ich bin sprachlos, am Boden zerstört und kann nur den Kopf schütteln. Das einzige, was ich gespürt habe, war Schmerz. Sehr viel Schmerz. Vor allem, weil es einfach so wahr ist. Dieser beschissene Krieg hat so viele Familien zerstört, für so viel Trauma und Angst gesorgt. Es tut einfach nur weh, wie das Leben nach dem Krieg eine 180 Grad Wendung eingenommen hat. Ich wünschte, ich könnte ins Detail gehen und mit euch über das Ende reden, aber wegen der Spoiler lasse ich es sein. Es war Schmerz pur. Und ich hätte nicht gedacht, dass ich es sage, aber ich bin froh, dass die Geschichte mit Annas Tod beginnt. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn ich die Zeit danach noch aus ihrer Sicht lesen müsste! Die letzten Kapitel sind emotional geladen und einfach nur schmerzhaft. Es ist definitiv ein Buch, das mich viel zu lange beschäftigen wird. Auch wenn ich mir vom Herzen etwas anderes gewünscht habe, so ist die Realität nicht immer rosig. Sie ist brutal, kalt und rücksichtslos. Und das ist das schönste am ganzen. Die Autorin hat eine realistische Geschichte geschaffen, die auf die Geschehnisse ihrer Familie beruht. Und das finde ich so bemerkenswert! Danke, Nadine, dass du diese Geschichte mit uns teilst! Danke! Auch wenn du mich wütend und traurig und aufgewühlt zurücklässt, ist es doch eine wunderschöne Geschichte, die viel zum Nachdenken anregt!
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